Englisch ist eine sehr effiziente Sprache. Bei Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche ist der Text der Ausgangssprache immer der kürzere. Das liegt nicht nur am weitaus größeren und differenzierteren Wortschatz des Englischen, sondern auch an der verknappenden englischen Syntax, die häufig in umständliche deutsche Relativsatz- und Adverbialkonstruktionen übertragen werden muss.
Mein Eindruck ist, dass jüngere Deutsche inzwischen ein relativ flüssiges Englisch sprechen und schreiben, das – anders als noch vor einigen Jahrzehnten – auch dicht am Sprachgebrauch der Originalsprache liegt. Das ist wohl überwiegend dem Internet zu verdanken: Musik, Texte und Filme sind leicht verfügbar, Social Media werden zum Teil auf Englisch genutzt. Der Sprachkontakt zum Englischen ist durch die digitale Globalisierung intensiviert. Dabei geschieht es immer häufiger, dass englische Wörter als Lehnwörter übernommen werden – besonders gern in die Jugendsprache und in den Jargon von Medien und Technik.
Auch die Alltagssprache ist voller versteckter Anglizismen. Das sind Idiome und Konstruktionen, die wortwörtlich übersetzt werden: Das mit Zweifeln oder Erstaunen vorgetragene „Really?“ wird zum genau gleich intonierten „Wirklich?“. „Not really“ hat es als „nicht wirklich“ ins Alltags- und auch Schriftdeutsche geschafft, genauso wie „einmal mehr“ („once more“), um nur wenige Beispiele zu nennen. Ich bin relativ gelassen, was diesen Sprachwandel angeht. Ich korrigiere Anglizismen und verdeckte Anglizismen nur, wenn sie zum Stilbruch führen, sonst schlage ich Varianten vor, die helfen sie zu umgehen, überlasse aber den Autor*innen die Entscheidung für Stil und Duktus ihrer Texte.
Dennoch hat mich ein Anglizismus-Verdacht gestern ziemlich ins Grübeln gebracht:
Es war eine Gewitternacht. Ich machte es mir mit der Radio Eins-Show „Happy Sad“ gemütlich. Die melancholischen Indie-Songs passten gut zum Windböen-Rauschen und Donnergrollen draußen. So ließ es sich gut wegdösen, jedenfalls bis die Moderatorin ein Interview zitierte, in dem ein Sänger seinen Kollegen als „den am meisten überschätzten Songwriter der Musikgeschichte“ bezeichnete. Nicht das Lehnwort „Songwriter“ ließ mich aufhorchen, sondern die Konstruktion: „der am meisten überschätzte“. Und nachdem Christine Heise die Aussage noch einmal gedehnt wiederholt hatte – schließlich war das ein vernichtendes Urteil über den Sänger, der gerade eben gespielt wurde – klang diese Übersetzung von „the most overrated songwriter“ noch einige Zeit disharmonisch in mir nach.
Nach einigem Überlegen dachte ich: „Aha, ein Lehnanglizismus bei der Superlativ-Bildung!“ Mehrsilbige Adjektive werden im Englischen ja mit „most“ in den Superlativ gebracht. „Most“ als Superlativ von „many“ hat dabei nur eine indikative, keine eigenständig semantische Funktion. Die Moderatorin hätte die Aussage also einfach mit „der überschätzteste Songwriter“ übersetzen sollen. Das war jedenfalls mein erster Korrektur-Impuls. Allerdings ist „der überschätzteste songwriter“ nicht nur schwer auszusprechen. „Überschätzt“ ist ja auch das Partizip II des Verbes „überschätzen“, und ich erinnerte mich dunkel an Grammatiklektionen, die besagten, dass Partizipien nicht gesteigert werden können, es sei denn, sie haben eine eigenständige adjektivische Bedeutung.
Ich stellte einen schnellen Vergleich mit einem ähnlichen Partizip an:
- überdehnt: die überdehnteste Stelle des Stoffes
Geht das? Auch eine Lektorin ist manchmal ratlos. Intuitiv würde ich sagen, „überdehnt“ lässt sich durchaus so steigern wie ein Adjektiv. Diese Einschätzung konkurriert aber mit dem eben zitierten, dunkel erinnerten Imperativ, wonach eine adverbiale Umschreibung verlangt wird. Aber tatsächlich mit „am meisten“?
- überdehnt: „die am meisten überdehnte Stelle des Stoffes“
- überschätzt: „der am meisten überschätzte Songwriter“
Klingt nicht vielleicht präziser:
- „der am stärksten bzw. am häufigsten überschätzte Songwriter“?
Oder können manche Partizipien nicht doch alleinstehend gesteigert werden, wenn ihr Adjektivcharakter deutlich wird? Eine schnelle Google-Kontrolle zeigt auf der ersten Trefferseite, dass sowohl „Focus“ als auch „Süddeutsche Zeitung“ die Konstruktion „der/die überschätzteste“ zumindest schon einmal verwendet haben. (Und bei der „Süddeutschen“ wird es ja wohl ein Lektorat gegeben haben, hoffe ich.) Allerdings gibt es nur 2300 Treffer. Relativ wenig, was vielleicht dafür spricht, dass die Regel „Partizipien nicht steigern“ den Gebrauch eindämmt.
Ich ändere die Google-Suche noch einmal und suche nach „am meisten überschätzte“ (in Anführungszeichen und Flexion.) Das liefert vergleichbar viele Treffer wie die Suche nach „überschätzteste“. Allerdings sind auf den ersten Seiten keine journalistischen Medien gelistet, sondern mehrheitlich Blogs und Service-Seiten. Wechsle ich damit zu Google News, zeigt sich, dass diese Konstruktion in journalistischen Texten oftmals als Zitat gekennzeichnet wird. Die Quellen sind dabei meist englischsprachig, was tatsächlich für die These spricht, dass „der/die am meisten überschätzte“ ein verdeckter Anglizismus von „most overrated“ ist, der sich im Sprachgebrauch schon durchgesetzt hat.
Ich überlege weiter, ob es nicht noch andere, ähnliche Konstruktionen gibt und komme auf Kompositpartizipien mit „meist-“ Einige sind sogar im Duden gelistet: meistbegünstigt, meistbeteiligt, meistbietend, meistgefragt, meistgelesen, meistgenannt, meistgekauft, meistverbreitet. Wahrscheinlich sind das die meistverwendeten (am häufigsten verwendeten?) „Meistlingsverben“. Könnte es analog dazu nicht heißen: „Er ist der meistüberschätzte Songwriter“? Google findet für diese Komposit-Variante immerhin etwas mehr als 3000 Treffer. Statistisch liegt „meistüberschätzt“ beim Google-Check also erst einmal vorn.
Das sind die bisher betrachteten möglichen Übersetzungen für „He is the most overrated songwriter.“
- Er ist der am meisten überschätzte Songwriter.
- Er ist der am häufigsten /am stärksten überschätzte Songwriter.
- Er ist der meistüberschätzte Songwriter.
- Er ist der überschätzteste Songwriter.
Doch das hört sich alles irgendwie krumm und falsch an.
Also noch einmal angestrengt nachdenken: Eine Suche nach „am meisten überschätzt“ (nicht in Flexion) liefert 155 Mal mehr Treffer. Doch Moment! Hier wird „überschätzt“ als Partizip II in einer Passivkonstruktion verwendet und „am meisten“ als deren Adverbialbestimmung: „Dies oder jenes wird am meisten überschätzt“. Eine Passivkonstruktion lässt sich natürlich nicht steigern, weil Verben nicht gesteigert werden. Den Grad der Intensität drückt man durch Adverbien aus, die allerdings gesteigert werden können.
- „XY ist he most overrated songwriter in the whole history of music.“
- „In der gesamten Musikgeschichte ist/wird XY als Songwriter am meisten überschätzt.“
Diese Konstruktion entlastet von der lästigen Suche nach einem 1:1-Äquivalent zu „most overrated“, das es laut der Regel, dass Partizipien im Deutschen nicht gesteigert werden können, gar nicht geben kann. „Überschätzt“ kann zwar auch als Adjektiv verwendet werden (ein überschätzter Autor), die Steigerung in den Superlativ klingt aber in allen oben aufgeführten Varianten seltsam und fremd.
Der Versuch einer direkten Übersetzung ist ein Phänomen der Eile und Flüchtigkeit. Vielleicht ist es der unübersetzbare Rest von Klarheit und Eindeutigkeit fremdsprachiger Idiome, der dazu führt, manche von ihnen "direkt wörtlich" oder "indirekt wörtlich übersetzt" entlehnen zu wollen. Vielleicht ist das ja auch ganz legitim und sind Sprachnormen dabei „most overrated“? Vielleicht sind Sprachnormen oftmals nur ästhetischer und subjektiver Natur?
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