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Open Access Publikation der geisteswissenschaftlichen Dissertation?

Open Access: die kosten- und barrierefreie Internetpublikation von wissenschaftlichen Texten und Dokumenten kommt in den Geisteswissenschaften langsam an und wird salonfähig. Digital verfügbare Informationen können Sichtbarkeit steigern und sind ein wichtiges Medium der wissenschaftlichen Selbstdarstellung.

 

Während sich die Naturwissenschaften nur noch zu einem geringen Anteil in der analogen (gedruckten) Informationskultur aufhalten, tendieren die Geisteswissenschaften zu einer Mischkultur aus digitalen und analogen Publikationsformen.

 

 

Die Geisteswissenschaften sind inzwischen – ähnlich wie die Naturwissenschaften – in eine konkurrierende Marktsituation getreten, obwohl ihre Forschung ganz andere, oftmals nicht so leicht verwertbare Ergebnisse hervorbringt und schwer "objektivierbar" ist. Den Marktdruck erzeugen dennoch die Finanzierer und Evaluierer: staatliche Institutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder der Wissenschaftsrat, die Evaluierungskriterien entwerfen, um entscheiden zu können, welche Institution finanziell gefördert wird.

 

Geisteswissenschaften unter Marktbedingungen

In Zeiten der Bibliometrie und Szientometrie werden zunehmend Sichtbarkeit, Output, Schlagkraft, Zitierfähigkeit, Expertenstatus und Transfer in die Medien wichtig, weil inzwischen überall gerankt, gezählt, dokumentiert und bewertet wird. Von quantitativen, messbaren Faktoren, vermeintlich objektiven Kriterien also, wie sie der Wissenschaftsrat immer wieder fordert, hängen Reputation, Projektgelder, Fördermittel und die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einträglicher Netzwerkbildung und Karrieren ab.

 

Bereit für quantitative Auswertung: Geisteswissenschafen im Reich der digitalen Sichtbarkeit

Wenn Informationen, Texte und Dokumente ans Netz angeschlossen werden, lesen Maschinen mit und (vor-)sortieren Informationen so, wie sie sie eben „verstehen“ können. Jederzeit lässt sich ein Such-Algorithmus über vorhandene Daten werfen, der Informationen auswerten, messen und graphisch darstellen kann. Mit Open Access gelangt die Geisteswissenschaft also noch stärker in das Reich der Messbarkeit und maschinellen Sichtbarkeit. Allerdings scheint es weiterhin ein großes Tabu zu geben:

 

Open Access Publikationen von geisteswissenschaftlichen Monograpien, Sammelbänden und auch Dissertationen existieren weiterhin nur zu einem geringen Anteil.

 

Gerade bei geisteswissenschaftlichen Dissertationen gibt es aber viele Gründe, dieses Tabu zu hinterfragen.

 

Eine kleine bibliometrische Studie in der Deutschen Nationalbibliothek

Ich habe im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek kursorisch selbst etwas Bibliometrie betrieben: In den letzten zehn Jahren ist mit Schwankungen der Anteil der Open Access publizierten Dissertationen insgesamt von 29,9 % 2006 auf 44,5 % 2016 gestiegen.

DNB Statistik Dissertationen 2006-2016
Blau: Anzahl der Dissertationen 2006-2016, rot: Anteil der Open Access publizierten Dissertationen

Im Detail bestätigt sich dabei die Diskrepanz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.

DNB-Statistik Anzahl der Open Access Dissertationen nach Fächern
rot und blau (fast unsichtbar): Anteil der Open Access publizierten Dissertationen in "Philosphie" und "Deutsche Literatur. Grün und lila: Anzal der Open Access publizierten Dissertationen in Chemie und Biologie.

Aktuell ist der Anteil von Open Access publizierten Dissertationen im Bereich „Deutsche Literatur“ unter den Wert von 2006 (11,2 %) auf 8,7 % gesunken. Alle zwei bis drei Jahre liegen die Werte etwas höher: 2013 sogar bei 15,2 %. Der Anteil der englischsprachigen Dissertationen ist dabei verschwindend gering.

 

blau: Anzahl der Dissertationen in "Deutscher Literatur" 2006-2016, rot: davon Open Access publiziert
blau: Anzahl der Dissertationen in "Deutscher Literatur" 2006-2016, rot: davon Open Access publiziert

 

Der Fachbereich Philosophie ist etwas offener für Open Access Publikation von Dissertationen: Es gab einen leichten Anstieg der Quote von 12,9 % 2006  bis 18,6 % im Jahr 2016, und sogar ein Hoch 2013 bei 23,5 %, also fast einem Viertel aller Dissertationen. Der Anteil der englischsprachigen Titel liegt dabei zwischen 11 und 28 %, offenbar mit steigender Tendenz.

 

DNB: Dissertationen Philosophie 2006-2016
blau: Anteil der Disserationen "Philosophie" 2006-2016, rot: davon Open Access publiziert

Anders in zwei Naturwissenschaften: Chemie und Biologie.

 

Seit 2006 ist der Anteil der frei online verfügbaren Chemie-Dissertationen von 44 % 2006 auf 61,7 % 2016 gestiegen. Vergleichbare Werte in der Biologie: Ein Anstieg von 43,4 (2006) auf 63,5 % 2016! Dabei stieg auch der Anteil der englischsprachigen online publizierten Disserationen von 36 auf 58 % (Chemie), bzw. von 46 auf 68 % (Biologie).

 

DNB: Dissertationen in Chemie 2006-2016
blau: Anzahl der Dissertationen Chemie 2006-2016, rot: davon Open Access publiziert
DNB: Disserationen Biologie 2006-2016
blau: Anzahl der Dissertationen Biologie 2006-2016, rot: davon Open Access publiziert

 

Die meisten Universitäten besitzen ein digitales Repositorium für hausinterne Veröffentlichungen. Eine Dissertation dort Open Access zu veröffentlichen, hat mehrere Vorteile. Vielleicht profitieren von diesen Vorteilen Naturwissenchaftler*innen noch stärker als Geisteswissenschaftler*innen. Trotzdem lohnt es sich, Avantgarde zu sein und Open Access auch nach außen selbstbewußt zu vertreten.

 

Ein guter Text bleibt ein guter Text, egal, wie er veröffentlicht wird. 

 

Server
Ein Server-Raum (CC0 1.0 public domain)

12 Vor- und 1,75 Nachteile der Open Access Publikation einer Disseration

 

Vorteile:

  • Bei einer Publikation im Repositorium der eigenen Universität entstehen weitaus geringere Kosten. Der übliche Druckkostenzuschuss für die Verlage, meist im vierstelligen Bereich, entfällt.
  • Schonung von Umwelt und Ressourcen: Der Publikations-Prozess verbraucht weniger Energie und Zeit. Wenn die Universität Öko-Strom oder selbst erzeugten nachhaltigen Strom erzeugt, kann sie die Umweltbilanz noch weiter steigern. Die Hochschulbibliothek verlangt bei online publizierten Dissertationen nur ein ausgedrucktes Belegexemplar.
  • Im Text einer digitalen Publikation können Links gesetzt und direkt aufgerufen werden.
  • Es können 3-D-Animationen, aufwändige Graphiken und audiovisuelle Medien eingebunden werden.
  • Die Bereitschaft zur Veröffentlichung der Dissertation seitens der Universität besteht auf jeden Fall: Es müssen nicht verschiedene Verlage angeschrieben und diverse Absagen einkassiert werden. Auch Anträge auf Druckkostenzuschüsse bei Stiftungen und Fördereinrichtungen werden unnötig.
  • Es vergeht weniger Zeit zwischen Fertigstellung der Disseration und Veröffentlichung. Die Promotionsurkunde und mit ihr der Doktor-Titel können schneller erlangt werden.
  • Google hat Zugang auf digitale Publikationen in Repositorien und findet die Metadaten (wie Autor, Titel, Schlagwörter). Leser und Leserinnen finden die Dissertation auch außerhalb der Bibliothekskataloge - und zwar im Volltext. Selbstverständlich wird die Arbeit trotzdem in die Bibliothekskataloge aufgenommen und wird auch dort auffindbar.
  • Der Text kann ohne Barriere international gefunden und rezipiert werden, wohingegen die meisten gedruckten Publikationen meist nur in (ausgewählten) deutschen Bibliotheken zirkulieren.
  • Der Text kann digital durchsucht werden.
  • Das Zitieren des Textes wird dadurch einfacher.
  • Die Wahrscheinlichkeit, zitiert zu werden, steigt (Hypothese).

Nachteile:

  • Plagiat-Jäger*innen haben es einfacher…
  • Oma, Schwiegermutter, Nachbarin, Hausarzt, Ex-Partnerin, der ehemalige Schulkamerad und andere „interessierte Personen“ lesen womöglich die Dissertation. (Ist das ein Nachteil?)
  • Womöglich wird nicht mehr konzentriert die gesamte Arbeit gelesen. Die Rezipienten durchforsten das Dokument ergebnisorientiert nach zitierbaren Passagen und Ergebnissen.
  • Es ist „nur“ der Dokumentserver der Uni, kein renommierter Verlag, der die Dissertation herausbringt. Eventuell ergibt das einen Reputationsnachteil.

Das große Tabu

Gerade der letztere Punkt ist wohl die größte Hürde für Geisteswissenschaftler*innen, ihre Dissertation Open Access online zu publizieren. Zu ihrem Lebenslauf gehörte in meiner Generation eine Publikationsliste mit vier Veröffentlichungstypen: Monographie, Herausgabe, Zeitschriftenartikel, Rezensionen.

 

Monographien durften (aus unausgesprochenen Gründen) keinesfalls online publiziert werden. Das hätte eine freiwillige Selbst-Entwertung bedeutet und war demzufolge tabu, sofern eine wissenschaftliche Karriere angestrebt wurde. 

 

Ein Blick auf die obige Dissertations-Statistik zeigt, dass diese implizite Regel immer noch gilt und erst langsam durchbrochen wird: Die geisteswissenschaftliche Dissertation in einem Verlag ist aber immer noch ein Adelungs-Ritual und gehört zum symbolischen Kapital der zukünftigen Wissenschaftler*innen.

 

Die Sache mit den Verlagen

Doch ein großer Teil der geisteswissenschaftlichen Dissertationen wird ohnehin nie in renommierten Publikums- oder Fachbuchverlagen, sondern in typischen Dissertations- oder in kleineren Spartenverlagen gedruckt. Hier müssen die Autor*innen sehr viel Eigenkapital aufbringen und hinterher auch noch Teile von Vertrieb und Marketing übernehmen.

 

Für eine Auflage von 200 Exemplaren! 

 

Daher würde ich aus heutiger Sicht zum Buchdruck einer geisteswissenschaftlichen Dissertaion nur noch raten, wenn tatsächlich ein renommierter Verlag sie in sein Programm aufnimmt, eine gute Auflage und ein guter Preis erzielt wird und dadurch die eigene Reputation steigt. Viele Verlage bieten inzwischen lohnenswerte hybride Publikationsmöglichkeiten: Mit dem Druck erscheint der TItel dann parallel auch als E-Book. Die digitale Veröffentlichung erfolgt dann zwar meist nicht Open Access, doch mit etwas Glück erwerben Bibliotheken Lizenzen, dann ist für deren angemeldete Leser*innen der Volltext digital verfügbar.

 

Wenn sich geisteswissenschaftliche Institutionen inzwischen bibliometrischer und szientometrischer Evaluation unterwerfen und den Kulturwechsel hin zu marktorientierter Verwertbarkeit ihres Outputs mitmachen, dann gibt es kaum noch Gründe, die vielen Vorteile von Open Access nicht zu nutzen.

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